In einem Unternehmen wird eine Erfindung gemacht. Nach einer ersten Einschätzung kommt man zu dem Schluss, dass die Erfindung zwar Vorteile mit sich brimgen mag, diese Vorteile aber nicht so stark ausgeprägt sind, als dass sie einen wesentlichen Wettbewerbsvorteil darstellen. Aus Kostengründen wird daher entschieden, nicht in mehreren Ländern, sondern lediglich in Deutschland ein Patent anzumelden.
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Nach der Einreichung der deutschen Patentanmeldung stellt sich in weiteren betriebsinternen Versuchen mit dem erfindungsgemäßen Produkt heraus, dass dessen Vorteile im Gegenteil erheblich sind, so dass ein Markterfolg absehbar ist. Aufgrund dieser neuen Erkenntnisse wird daher einige Monate später dieselbe Erfindung auch in Frankreich zum Patent angemeldet, weil dort ein weiterer wesentlicher Absatzmarkt des Unternehmens verortet ist. Die vorangehende deutsche Patentanmeldung ist dabei übrigens unkritisch, zumal diese noch nicht veröffentlicht ist.
Zusammenfassend gibt es in diesem Beispiel also eine deutsche erste Patentanmeldung mit einem früheren ersten Anmeldetag und eine französische zweite Patentanmeldung gleichen Inhalts mit einem späteren zweiten Anmeldetag. Zwischen dem ersten Anmeldetag und dem zweiten Anmeldetag ist aber ein kritischer Zeitraum entstanden. Denn wie der aufmerksame Leser unseres Blogs bereits aus dem Artikel Stand der Technik im Patenrecht weiß, wird der sogenannte Stand der Technik von allen Kenntnissen gebildet, die vor dem Anmeldetag einer Patentanmeldung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind. Und dieser Stand der Technik ist letztlich ausschlaggebend dafür, ob eine Erfindung patentwürdig ist. Mithin gelten die Veröffentlichungen innerhalb dieses kritischen Zeitraums zwar nicht als Stand der Technik bei der Beurteilung der ersten Patentameldung in Deutschland, aber durchaus bei der Beurteilung der zweiten Patentanmeldung in Frankreich. Folge kann sein, dass zwar die erste Patentanmeldung zur Erteilung eines Patents führt, die zweite Patentanmeldung jedoch nicht, wenn im kritischen Zeitraum ein zusätzlicher und für die zweite Patentanmeldung tödlicher Stand der Technik entstanden ist.
Dabei ist es noch nicht einmal erforderlich, dass dieser tödliche Stand der Technik durch andere geschaffen wurde. Es reicht vielmehr bereits aus, wenn der Patentanmelder selbst die Erfindung publik gemacht hat. Dies könnte beispielsweise durch Veröffentliuchung in einem Produktkatalog oder im Rahmen einer öffentlichen Präsentation erfolgt sein. Überdies ist es in einem umkämpften Geschäftsfeld durchaus möglich, dass ein Wettbewerber unabhängig dieselbe Erfindung gemacht und in diesem kritischen Zeitraum in Frankreich zum Patent angemeldet hat. Dann steht diese Patentanmeldung des Wettbewerbers nicht nur der zweiten Patentanmeldung als sogenannter nachveröffentlichter Stand der Technik entgegen. Vielmehr kann aus der Patentanmeldung des Wettbewerbers auch ein Patent erwachsen, das den Zugang zum französischen Markt verwehrt.
Die Lösung der geschilderten Problematik bietet das sogenannte Prioritätsrecht. Das Prioritätsrecht wurde grundlegend in der Pariser Verbandsübereinkunft (PVÜ) aus dem Jahr 1883 geregelt, wobei mittlerweile 179 Staaten diesen internationalen Vertrag ratifiziert haben. So soll der Anmelder eines Patents in einem Verbandsland für die Anmeldung derselben Erfindung in einem der anderen Verbandsländer ein auf zwölf Monate befristetes Prioritätsrecht genießen. Bezogen auf den zuvor geschilderten Fall wäre also wie folgt vorzugehen:
Der Patentanmelder entscheidet sich innerhalb von höchstens zwölf Monaten nach dem ersten Anmeldetag der Patentanmeldung in Deutschland, ob dieselbe Erfindung auch in Frankreich zum Patent angemeldet werden soll. Fällt diese Entscheidung positiv aus, so wird die zweite Patentanmeldung innerhalb dieser zwölf Monate unter Inanspruchnahme der Priorität aus der ersten Patentanmeldung auch in Frankreich eingereicht. Hierdurch wird der erste Anmeldetag aus Deutschland zum Prioritätstag der zweiten Patentanmeldung in Frankreich. Bildlich gesprochen wird eine Brücke über den kritischen Zeitraum gespannt. Die erwähnten Veröffentlichungen in diesem Zeitraum bilden dadurch keinen Stand der Technik für die zweite Patentanmeldung in Frankreich. Auch hat die zweite Patentanmeldung den besseren Zeitrang als etwaige französische Patentanmeldungen eines Wettbewerbers in diesem Zeitraum.
Wenngleich sich das Beispiel lediglich auf eine zweite Patentanmeldung in Frankreich bezieht, so kann die Priorität aus der ersten Patentanmeldung durchaus für zweite Patentanmeldungen in einer Vielzahl anderer Länder in Anspruch genommen werden. Des Weiteren kann die Priorität der ersten Patentanmeldung auch für europäische oder internationale Patentanmeldungen beansprucht werden.
Aus dem Gesagten lassen sich die nachstehenden Tipps bzw. Handlungsempfehlungen ableiten:
- Der Testballon
Patentanmelder, die den Markterfolg oder die Patentwürdigkeit einer Erfindung noch nicht abschätzen können und daher nicht sofort die hohen Kosten vieler einzelner nationaler Patentanmeldungen, einer europäischen Patentanmeldung oder einer internationalen Patentanmeldung auf sich nehmen wollen, sollten zunächst „nur“ eine nationale erste Patentanmeldung einreichen. Ist die Patentwürdigkeit zweifelhaft, sollte mit der Einreichung auch ein Rechercheantrag zur Ermittlung des Standes der Technik gestellt werden. Auf Grundlage des amtlichen Rechercheergebnisses – das hoffentlich innerhalb der 12-monatigen Prioritätsfrist vorliegt – kann entschieden werden, ob Nachanmeldungen im Ausland unter Beanspruchung der Priorität in Frage kommen oder nicht. Sinngemäß bildet die erste Anmeldung in diesem Fall einen relativ günstigen „Testballon“ zur Ermittlung der Erfolgsaussichten und man kauft sich damit mehr Zeit für eine Entscheidung ein. - Der Verkauf
Patentanmelder, die die erste Patentanmeldung eingereicht haben und im Wesentlichen darauf abzielen, ihre Patentanmeldung zu verkaufen, sollten dies zügig innerhalb der 12 Monate nach dem Anmeldetag unter Dach und Fach bringen. Hintergrund ist, dass mit dem Verkauf auch das Prioritätsrecht auf den Rechtsnachfolger übertragen werden kann, so dass der gegebenenfalls finanzstärkere Käufer die aufwendigen und kostspieligen Nachanmeldungen im Ausland seinerseits vornehmen kann, während dem ursprünglichen Patentanmelder dies erspart bleibt. - Die Weiterentwicklung
Die 12-monatige Prioritätsfrist sollte auch genutzt werden, um die in der ersten Patentanmeldung beschriebene Erfindung weiterzuentwickeln. So können weitere vorteilhafte Ausführungsformen der grundlegenden Erfindung ermittelt werden, die dann mit in die zweite Patentanmeldung aufgenommen werden und auf die gegebenenfalls sogar ein Unteranspruch gerichtet wird. Hierdurch erhöht sich die Chance auf eine Erteilung eines Patents für die zweite Patentanmeldung, wenn sich im Prüfungsverfahren herausstellen sollte, dass die grundlegende Erfindung doch nicht patentwürdig ist.
Man sollte beim letztgenannten Punkt 3 jedoch nicht dem Irrtum unterliegen, dass die in die zweite Patentanmeldung aufgenommenen zusätzlichen Merkmale ebenfalls die Priorität aus der ersten Patentanmeldung genießen. Aber hierauf soll erst im nächsten Blogbeitrag „Weiterentwicklung der Erfindung im Prioritätszeitraum“ näher eingegangen werden …